Jos de Blok entwickelte im Jahr 2006 das neuartige Buurtzorg-Konzept. Er verfolgte die Mission, wieder eine stärker klient*innenzentrierte Pflege zu gestalten. In den Niederlanden nahm zu dieser Zeit das Pflegesystem eine immer stärkere wirtschaftliche Ausrichtung an, womit Klient*innen und Pflegekräfte immer unzufriedener waren. [1] Pflegerische Tätigkeiten waren sogenannte „Produkte“, wurden im Sinne einer Spezialisierung unter den Pflegekräften aufgeteilt und die Pflegeorganisationen wuchsen. Immer mehr Manager*innen mussten eingestellt werden. Die stark auf Wirtschaftlichkeit und Effizienz ausgerichteten Pflegeprozesse führten dazu, dass teils mehrfach täglich unterschiedliche Pflegekräfte zu den Klient*innen kamen, dort unter hohem Zeitdruck arbeiteten und in ihrer Leistungserbringung von der Zentrale überwacht wurden. [3] Die Buurtzorg-Idee stand dem entgegen: Pflegekräfte sollten wieder mehr Handlungsmacht in ihrer Pflege bekommen und starre Hierarchien und Bürokratisierung abgeschafft werden. [1]
Bereits nach sieben Jahren hatte sich das Buurtzorg-Modell weit in den Niederlanden ausgebreitet und 630 Buurtzorg-Teams waren mit 6500 Angestellten aktiv unterwegs. [2]
Buurtzorg verfolgt einen klient*innenzentrierten Pflegeansatz, bei dem Pflegekräfte in kleinen Teams selbstgesteuert arbeiten. Es gibt kein mittleres Management und nur ein kleines Back-Office für die anfallenden Abrechnungen. [1,2] Buurtzorg geht davon aus, dass professionelle Pflegekräfte kein Management von oben benötigen. Die Teams aus bis zu 12 Pflegekräften organisieren daher selbstständig die Versorgung von bis zu 50 bis maximal 60 Klient*innen. [2]
Die „Nachbarschaftspflege“-Teams von Buurtzorg arbeiten in einer klar abgegrenzten Umgebung und strukturieren dabei alle anfallenden Aufgaben für die Klient*innen und das Team selbst (z.B. Aufnahme neuer Klient*innen, Obergrenze der zu betreuenden Personen, Teamorganisation wie Dienstplanung, Urlaubsplanung, Zusammenarbeit mit Krankenhäusern und Ärzt*innen oder Weiterbildung). Alle Entscheidungen werden kooperativ im Team getroffen, es gibt keine Führungskraft. Die zu pflegenden Personen erhalten eine enge soziale und pflegerische Betreuung von ihnen fest zugeordneten Pflegekräften: So ist ein Beziehungs- und Vertrauensaufbau von Anfang an möglich. Ganzheitliche Pflege beinhaltet neben grund- und behandlungspflegerischen Tätigkeiten auch beispielsweise Beisammensitzen und Kaffeetrinken, also emotionale und soziale Unterstützung. Die Klient*innen werden weiterhin besonders in ihrer Selbstständigkeit gefördert, um so eigenständig mehr Aufgaben ihres Lebens bewältigen zu können. Sie sollen also bestenfalls wieder zu Selbstständigkeit ohne Unterstützung des Pflegedienstes kommen. Ein Netzwerk aus Familie, Freund*innen und Nachbar*innen wird aufgebaut und befähigt, um pflegerische und soziale Unterstützung für die zu pflegende Person zu bieten. [3]
Die positiven Folgen: Die Mitarbeiterfluktuation ist zu rund 30% und krankheitsbedingte Ausfälle sind zu rund 60% niedriger als in „klassischen“ Pflegediensten. Der pflegerische Aufwand ist im Vergleich zu den durchgetakteten, auf Effizienz getrimmten Pflegediensten deutlich geringer und es ist dennoch genug Zeit für ein Pläuschchen bei Kaffee. Die Zufriedenheit der Klient*innen und Pflegekräfte mit der geleisteten ist somit deutlich höher. [3]
Auch in Deutschland gibt es erste Modellprojekte, die nach dem Buurtzorg-Konzept organisiert sind. In Nordrhein-Westfalen erprobte die Sander-Pflege an vier Standorten das Buurtzorg-Konzept im Rahmen eines evaluierten Modellprojekts, bei dem ebenfalls Teams der Caritas in Aachen und Münster die neue Organisationsform testeten. [4, 5] In Leipzig arbeiten mehrere Teams des Pflegedienstes Bosold unter der Buurtzorg-Marke. [6] Andere Pflegedienste entwickeln ähnliche Konzepte, wie der Pflegedienst „4 bei mir“ aus Berlin. [7] Alle vereint das Wertebild, dass die Pflege wieder selbstbestimmter und klient*innennäher sein muss.
Doch natürlich muss bei der Übertragung auf Pflegedienste in Deutschland die hier gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie Abrechnungsformate für Leistungen beachten: Pflegedienste müssen sich hier per Gesetz mit einer Pflegedienstleitung gründen. Hinzu kommt das Abrechnungssystem, nachdem die Pflegedienste die erbrachten Leistungen in sogenannten Leistungskomplexen bei den Kassen abrechnen. In Nordrhein-Westfalen erprobten die Pflegedienste im Buurtzorg-Modellprojekt in einem genehmigten Ausnahmefall die stundenweise Leistungsabrechnung mit den Kassen. [7]
Dennoch: Das Buurtzorg-Modell ist ein lohnenswerter Ansatz, falls Sie überlegen, Ihren Pflegedienst Schritt für Schritt umzustrukturieren. Holen Sie sich Inspiration, testen Sie kleine Veränderungen aus. Sie werden sehen, eine selbstbestimmtere Pflege bringt viele Vorteile mit sich.
[1] Kreitzer, M. J., Monsen, K. A., de Blok, J. (2005). Buurtzorg Nederland: A Global Model of Social Innovation, Change, and Whole-Systems Healing, Global Adv Health Med., 4(1), 40-44. doi: 10.7453/gahmj.2014.030
[2] Nandram, S. (2015). ‚Buurtzorg‘: A case of being-centredness as example of organic worldview for corporate peace, Conflict Management, Peace Economics and Development, 24, 333-349. doi:10.1108/S1572-832320150000024023
[3] Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. https://doi.org/10.15358/9783800649143-358
[4] https://pflege-dschungel.de/buurtzorg/
[5] https://www.fh-muenster.de/gesundheit/forschung/buurtzorg.php
[6] https://www.buurtzorg-ost.de/
[7] https://www.vierbeimir-kiezpflege.berlin/
[8] Krinninger, T. (2018). Das soziale Netzwerk pflegt mit. Abgerufen von https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-06/ambulante-pflegedienste-soziale-netzwerke-personal-mangel-niederlande-zeitdruck