Selbstorganisation in der Pflege – welche Ansätze lassen sich wie übertragen?

Das Buurtzorg-Pflegemodell aus den Niederlanden gewinnt immer mehr an Bekanntheit. Schließlich wurde hier durch verschiedene Organisationsveränderung eine ganzheitliche ambulante Pflege entwickelt, bei der Selbstbestimmung für Pflegekräfte und Klient*innen im Vordergrund steht. Zu Buurtzorg gehört, dass Pflegekräfte selbstorganisiert in kleinen Teams arbeiten. Wie Selbstorganisation im ambulanten Pflegealltag aussehen kann, stellen wir Ihnen in diesem Beitrag vor.

Selbstorganisiertes Arbeiten bedeutet, dass sich Menschen in einem Team die anfallende Arbeit eigenständig untereinander aufteilen. Es gibt keine Führungskraft, die Anweisungen von oben ansagt, sondern Entscheidungen werden gemeinschaftlich miteinander getroffen. Im Kern heißt das: „Mitarbeitende leiten sich selbst, strukturieren ihren Arbeitsalltag, tragen Verantwortung und haben hohe Entscheidungsfreiheit. Hierarchien fallen weg.“ (Grätsch & Knebel, 2022)

Dass Selbstorganisation ein Konzept ist, das erst einmal gelernt werden muss, ist klar: Viele Menschen arbeiteten bislang in hierarchischen Strukturen und sind es gewöhnt, dass sie die letztliche Entscheidung über Aufgaben nicht selbstständig treffen können. Die Umstellung eines Teams hin zur Selbstorganisation braucht daher einige Zeit. Leichter lässt sich Selbstorganisation in ein noch neu zu bildendes Team einführen, denn hier haben sich noch keine festen Normen und Prozesse etabliert und die Teammitglieder kennen sich noch nicht untereinander. Es gibt keine idealtypische Teamgröße, da sie von den Bedingungen der Organisation selbst abhängt – aber es haben sich Teamgrößen zwischen 5 und 9 Personen etabliert (me&company, 2022).

Auch die ambulante Pflege ist schon gesetzlich eher hierarchisch strukturiert. Ein ambulanter Pflegedienst braucht bei Neugründung eine Pflegedienstleitung und eine Pflegefachkraft. Aber die Ausgestaltung der Rollen und Verantwortlichkeiten hin zu mehr Selbstorganisation im Team kann dennoch vorgenommen werden. Die Zusammenarbeit miteinander ist schließlich immer ein Aushandlungsprozess aller und kann demnach auch in eine selbstorganisierte Form übergehen.

Wie kann Selbstorganisation ausgestaltet werden?

Selbstorganisation auszugestalten fängt bei der Rollenklärung an, geht bei den Informations- und Kommunikationsflüssen weiter und hört bei der Planung der Entscheidungsfindung auf.

  • Zunächst muss klar werden, wer welche Rolle im Team übernimmt und für welche Aufgabe verantwortlich ist.
  • Weiterhin muss der Weg der Entscheidungsfindung festgelegt werden, damit sich nicht plötzlich doch eher hierarchische Strukturen einschleichen.
    • Beispielsweise können mehrere Kreise festgelegt werden, in denen Mitarbeiter*innen zusammen Entscheidungen für das Team fällen.
    • Zudem sollte definiert werden, welche Entscheidungen ein*e Mitarbeiter*in eigenverantwortlich trifft und welche das Team fällt.
    • Auch der Weg der Entscheidungsfindung sollte bedacht werden: Beispielsweise kann der Weg der Konsent-Entscheidung genutzt werden, bei der Argumente gegen einen Vorschlag in diese Idee eingearbeitet werden. Danach wird die Idee ausprobiert. Es gibt aber auch die Möglichkeit, einfache Mehrheitsentscheidungen zu treffen. Das Team muss abstimmen, welche Entscheidungsfindung es bei welchem Fall anwendet.
  • Zudem kann eine bestehende Führungskraft nicht plötzlich ihre Aufgaben in das Team geben. Es muss eine genaue Aufgaben- und Rollenübergabe genutzt werden.
  • Transparenz über Informationen und eine klare Kommunikationsbasis sind noch einmal umso bedeutsamer, wenn sich das Team selbst organisiert. Nur wenn alle relevanten Informationen für alle Teammitglieder vorhanden sind, können entsprechende Entscheidungen getroffen werden. Kurze, tägliche Meeting-Formate stärken die Transparenz untereinander. Diese sollten wechselnd von jedem Teammitglied moderiert werden.
  • Weiterhin sind regelmäßige Reflexionen der gemeinsamen, selbstorganisierten Zusammenarbeit wichtig, um z.B. schwelenden Konflikten vorzubeugen, Rollen noch klarer zu beschreiben oder Informationsflüsse und Entscheidungswege noch transparenter zu gestalten, so dass sich alle im Team gesehen fühlen und sich gleichermaßen einbringen können.

(Grätsch & Knebel, 2022)

Praxisbeispiel – Sander Pflege in Nordrhein-Westfalen:

Quelle und Langfassung: Diese Informationen sind aus einem Interview mit Gunnar Sander und Udo Janning entnommen. Dieses können Sie hier nachlesen: https://newmanagement.haufe.de/organisation/selbstorganisierte-pflege-buurtzorg-deutschland

Zum Hintergrund: Die Sander Pflege GmbH geht im Jahr 2018 mit ihrem Geschäftsführung Gunnar Sander den ersten Schritt in Richtung selbstorganisiertes Arbeiten. In einem ersten Pilotprojekt begannen mehrere Teams ohne Führungskraft zu arbeiten. Die Gründung der Buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege gGmbH folgte 2019.

Was klären die Teams selbstorganisiert?

Die ambulanten Pflegeteams ohne eine Führungskraft organisieren selbstständig

  • die Dienst- und Tourenplanung,
  • die Planung der Kontakte mit Hausärzt*innen,
  • die Medikamentenbestellungen,
  • die Neuaufnahmen und
  • generell die Aufgabenverteilung im Team, auch entsprechend der Qualifikationen.

Welche Probleme können auftreten?

Zwei neu gegründete, selbstorganisierte Pflegeteams wuchsen zu schnell. Unterschiedliche Ansichten zur Selbstorganisation prallten auf fehlende Vorerfahrungen in puncto Selbstorganisation. Fehlendes pflegerisches Vorwissen bei Neueinsteiger*innen erschwerte, dass sich diese Menschen in die selbstorganisierten Strukturen eingewöhnen konnten, da ihnen die Routinen zu pflegerischen Abläufen und den damit verbundenen Möglichkeiten zum selbstständigen Handeln und Entscheiden fehlte. Dadurch, dass viele neue Menschen aufeinander trafen, die teils hierarchische Strukturen gewöhnt waren, wurden Entscheidungsprozesse innerhalb des Teams erschwert. Gerade in schwierigen, sich schnell wandelnden Zeiten ist es für Menschen oft einfacher eine Führungskraft zu haben, die den Weg vorgibt. So passierte es dann auch in einem der Teams, dass der Pflegedienstleiter wieder in diese Rolle zurückrutschte, obwohl er das selbst nicht wollte.

Welche Erkenntnisse sollten Sie beachten, wenn Sie mehr Selbstorganisation einführen wollen?

  • Die Teams sollten nicht zu groß sein. Zu viele Menschen erschweren kollektive Entscheidungsprozesse und können nur verlangsamt Regelungen für die Zusammenarbeit miteinander aushandeln.
  • Schulen Sie die Mitarbeitenden in ihrer kollektiven Zusammenarbeit, in Aushandlungsprozessen und schaffen Sie so ein Wir-Gefühl. Mindestens ein halbes Jahr, schätzt Gunnar Sander dazu ein.
  • Stellen Sie externe Begleitung durch Coaches an die Seite, die im Prozess mit dem Team an Schwierigkeiten der Zusammenarbeit arbeiten können.

Die Umstellung eines Teams auf selbstorganisiertes Arbeiten oder Neugründung eines selbstorganisierten Teams kann herausfordernd sein. Wichtig ist, sich generell von Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen, sondern dranzubleiben.

 

Quellen und weiterführende Informationen:

Grätsch, S., & Knebel, A. (2022). Selbstorganisation im Unternehmen: Was ist das? Wie funktioniert´s? Abgerufen von https://www.berlinerteam.de/magazin/so-funktioniert-selbstorganisation-im-unternehmen-die-10-grundlagen/

Horning, S. (2021). Selbstorganisation braucht Schulung und Zeit. Abgerufen von https://newmanagement.haufe.de/organisation/selbstorganisierte-pflege-buurtzorg-deutschland

Me&Company (2022). Agile Teams: Leitfaden für selbstorganisierte Arbeit. Abgerufen von https://www.me-company.de/magazin/agile-teams/

Faktenblatt zur Selbstorganisation