Lern- und Experimentierräume – Erfahrungen aus drei Jahren PFLEX SACHSEN

Im Januar 2020 starteten wir mit dem Projekt PFLEX SACHSEN. Ziel war es, die Mitbestimmung durch Mitgestaltung in sogenannten „Lern- und Experimentierräumen“ in ambulanten Pflegediensten zu befördern. Nun blicken wir zurück auf eine ereignisreiche Projektlaufzeit, auf gesammeltes Wissen und Erfahrungen, von denen Sie auch nach Ende der Projektlaufzeit profitieren sollen und für die selbstständige Einführung eines Lern- und Experimentierraums nutzen können.

1. Was sind Lern- und Experimentierräume und wofür eignen Sie sich?

Ein Lern- und Experimentierraum ist eine agile Methodik zur gemeinsamen Entwicklung von Ideen und Lösungsansätzen unternehmensinterner Fragen und Herausforderungen. Dabei liegt die Ideenentwicklung überwiegend in der Hand der Mitarbeitenden. In den einzelnen Arbeitsphasen bearbeiten sie Teilzeile, diskutieren diese anschließend mit der Führungsebene und erproben Lösungsansätze im kleinen Rahmen, bevor diese (ggf. angepasst) auf das Unternehmen ausgerollt werden.

Ein Beispiel: Die Geschäftsführerin eines ambulanten Pflegedienstes zerbricht sich schon länger den Kopf über die permanente Unzufriedenheit der Mitarbeiter*innen mit der Tourenlänge und Aufteilung. Sie findet keine Lösung, die die Mitarbeiter*innen zufrieden stellt. Bei dieser Problematik können die Mitarbeiter*innen als Expert*innen der eigenen Arbeit gut einbezogen werden, um mit einem Lern- und Experimentierraum eine für alle passgenaue und damit akzeptierte Lösung zu finden.

Lern- und Experimentierraumsgruppen orientieren sich in ihrer Arbeit an folgenden Prinzipien:

  • Arbeit in Zyklen: Die Gruppe entwickelt in regelmäßigen, beispielsweise wöchentlichen, Treffen Ideen für ein Teilziel und stimmt sich nach ca. 4 bis 6 Wochen dazu erstmalig mit der Führungsebene ab. Nach dieser gedrehten Feedbackschleife werden die Anmerkungen im nächsten Arbeitszyklus in die Ideenentwicklung eingearbeitet und das nächste Teilziel angegangen. Danach folgt wieder eine Feedbackschleife und der nächste Arbeitszyklus.
  • „Fehler“ sind unbedingt erwünscht: Lern- und Experimentierräume sind genau dafür da, dass neue Ideen getestet und erprobt werden können und Lösungen bei nicht vorhandener Unternehmenspassung wieder verworfen werden dürfen. Sie schärfen das Bewusstsein, dass Fehler nichts schlimmes sind, sondern vielmehr dem Lernen dienen.
  • Gemeinsam wirken: Lern- und Experimentierräume bringen unterschiedliche Mitarbeiter*innenperspektiven ein und schaffen eine Möglichkeit zur Mitwirkung an Unternehmensentscheidungen.
  • Testen und Übertragen: Entworfene Ideen können beispielsweise in einem einzelnen Unternehmensbereich getestet werden und dann, nach möglichen weiteren Anpassungen, strategisch auf das ganze Unternehmen ausgerollt werden.

2. Wie läuft ein Lern- und Experimentierraum in der Praxis ab?

Folgende Schritte gingen alle bei uns im Projekt mitwirkenden Unternehmen:

  • Situationsanalyse:
    • Zuerst wurde in Gesprächen mit der Geschäftsführung und einigen Mitarbeitenden ermittelt, was in den Feldern Führung, Kommunikation, Gesundheit, Wissen und Prozesse/Digitalisierung gut läuft und wo es Handlungsbedarfe gibt.
    • Die Handlungsbedarfe wurden anonymisiert ausgewertet und der Geschäftsleitung übergeben.
    • Dies können Sie auch anonymisiert selbst vornehmen: Entwickeln Sie einen kleinen Fragebogen für Ihre Mitarbeitenden, lassen Sie diesen anonym ausfüllen und bearbeiten Sie ihn für sich selbst ebenfalls. Die Antworten der Mitarbeitenden fassen Sie anschließend zusammen und stellen dies Ihren persönlichen Einschätzungen gegenüber.
  • Durchführung einer Kick-Off-Veranstaltung:
    • In einer kurzen Auftaktveranstaltung von 60 bis 90 Minuten wurden die Ergebnisse der Situationsanalyse allen Mitarbeiter*innen vorgestellt. Jede*r bekam die Möglichkeit, die Ergebnisse auch selbst einzuschätzen und Fragen zu stellen.
    • Anschließend wurde im Kollektiv festgelegt, was das am dringlichsten zu bearbeitende Problem ist.
    • Die Mitarbeitenden konnten sich nun freiwillig zur Teilnahme melden.
  • Befähigung der Lots*innen:
    • Damit die Arbeitsgruppe ins Arbeiten kommt und auch in schwierigen Zeiten am Ball bleibt, braucht es eine Person aus der Gruppe, die den Hut auf hat, die Kommunikation mit der Führungsebene anstößt und auch dafür sorgt, dass Meetings zielorientiert gestaltet werden.
    • In PFLEX SACHSEN wurden diese Lots*innen in allen Fällen von der Führungskraft angefragt. Die Übernahme der Rolle ist – wie auch die Mitwirkung im Lern- und Experimentierraum generell – immer freiwillig.
    • Bei den Lots*innen handelte es sich um durchsetzungsstarke, kommunikative Personen, die der Moderation von Treffen oder Konflikten gegenüber offen waren.
      Vor Beginn des ersten Treffens des Lern- und Experimentierraums wurden die Lots*innen auf ihre Rolle vorbereitet und vertieften ihr Wissen zur Methodik des Lern- und Experimentierraums, zu Kommunikation, Moderation und Konfliktmanagement. Diese Befähigung fand entweder im Seminar- oder Einzelgesprächsformat statt.
    • Unser Tipp: Tauschen Sie sich als Führungskraft mit dem*der künftigen Lotsen*Lotsin aus, geben Sie Hinweise zur Methodik und den Rollenanforderungen.
    • Zur Stärkung personaler und sozialer Kompetenzen kann der*die Lotse*Lotsin auch an externen Seminaren, z.B. zur Kommunikation oder Teamführung, teilnehmen. Tauschen Sie sich einfach davor aus.
  • Häufigkeit und Dauer der Treffen:
    • In der Theorie wird dazu geraten, wöchentliche Treffen von ca. 1 Stunde Dauer für den Lern- und Experimentierraum einzuplanen.
    • In der Praxis ist dies in den in PFLEX SACHSEN mitwirkenden, ambulanten Pflegediensten kaum möglich. Unterschiedliche Dienstpläne, Krankheitswellen und Urlaubszeiten erschweren häufige Treffen!
    • Wir raten dazu: Planen Sie regelmäßige Treffen von ca. 1,5 bis 2 Stunden für den Lern- und Experimentierraum, direkt im Dienstplan der mitwirkenden Mitarbeiter*innen ein. Alle zwei Wochen ist realistisch, länger als ein Monat sollte nicht zwischen den einzelnen Terminen liegen, damit die Motivation der Teilnehmer*innen erhalten bleibt. So kann es natürlich etwas länger dauern, bis eine Idee zur fertigen Lösung wird, aber es kommt bei den Mitwirkenden nicht zum Frust, wenn viele Treffen abgesagt werden müssen.
  • Dokumentation:
    • Den Lern- und Experimentierraumteams wurde eine kurze Protokollvorlage zur Dokumentation der Treffen und zum Festhalten der Ziele für das nächste Treffen zur Verfügung gestellt. Nicht alle nutzen diese Vorlage, sondern schufen sich eigene Dokumentationswege.
    • Wichtig ist: Die Teams sollten für sich festhalten,
      • was im Meeting beschlossen wurde,
      • was zum nächsten Treffen zu tun ist
      • und wer dafür verantwortlich ist.
         

Hier finden Sie einen Übersichtsartikel zu Lern- und Experimentierräumen: https://pflex-sachsen.de/pflex/handeln/pflexexperimentieren

Unter  https://pflex-sachsen.de/pflex/handeln/erfolgreiche-praxisbeispiele können Sie Praxisbeispiele aus den im Projekt mitwirkenden Unternehmen nachlesen.

3. Wer kann im Lern- und Experimentierraum mitwirken?

Im Lern- und Experimentierraum kann grundsätzlich jede*r mitwirken, der*die Lust auf Mitgestaltung hat. Diese Projekterfahrungen geben wir Ihnen dazu mit:

  • Gruppengröße: In unserem Projekt bildeten sich überwiegend Arbeitsgruppen von 5 bis 7 Personen. Sollten sich mehr Personen für die Mitwirkung begeistern, dann können auch beispielsweise zwei Lern- und Experimentierräume zu unterschiedlichen Themen gebildet werden. Zu viele Personen erhöhen den Koordinierungsaufwand bei der Terminfindung (zu viele unterschiedliche Dienstpläne!) und den Abstimmungsaufwand in den Meetings.
  • Persönlichkeiten: Es ist toll, wenn im Lern- und Experimentierraum die eh schon engagierten Personen mitwirken, die sich auch um anderes im Unternehmen kümmern. Aber regen Sie auch die Mitarbeiter*innen an, die eher still sind und fragen Sie auch z.B. die „Kritiker*innen“ an. Eine gemischte Gruppe mit unterschiedlichen Persönlichkeiten spiegelt eher die Zusammensetzung Ihres Unternehmens wider und entwickelt so Ideen, die von allen getragen werden.
  • Qualifikationen/Kompetenzen: Sie beschäftigen Pflegefachkräfte/Pflegehilfskräfte/Hauswirtschafter*innen oder andere? Schauen Sie gerne, dass die verschiedenen Gruppen im Lern- und Experimentierraum vertreten sind. Diversität bringt neue Impulse und Ideen.

4. Welche Themen können im Lern- und Experimentierraum bearbeitet werden?

Grundsätzlich kann ein Lern- und Experimentierraum-Team alle für die Zusammenarbeit und das Miteinander relevanten Themen bearbeiten.

Die Teams der Unternehmen in PFLEX SACHSEN kümmerten sich um:

  • Dienstplangestaltung und Tourenplangestaltung: Anpassung der Dienst- und Tourenlänge, Veränderung der Routen
  • Neustrukturierung der Dienstberatungen
  • Einführung von Wegen zur stärkeren Nutzung digitaler Hardware
  • Einführung von Tourenhandys
  • Einführung der SIS®
  • Anpassung der Einarbeitungsprozesse

5. Welche Hindernisse können während der Laufzeit des Lern- und Experimentierraums auftreten und wie gehen Sie am besten damit um?

Mögliche auftretende Hindernisse und Ansatzpunkte zur Lösung

  • Hindernis 1: Verhinderung von Teammitgliedern aufgrund von Krankheit und Vertretung
    • Planen Sie frühzeitig mögliche Ersatztermine im Dienstplan ein
    • Verhindern Sie Wissensverlust, indem das Team und der*die Lotse*Lotsin zur Notwendigkeit der Protokollierung gebrieft sind.
  • Hindernis 2: Sehr hoch gesteckte, unkonkrete Ziele
    • Bereits im Kick-Off und im ersten Arbeitstreffen sollten alle gemeinsam (Führungsebene, Teammitglieder, Lots*innen) darauf achten, ob die anvisierten Ziele überhaupt realistisch oder im vorgenommenen Zeitraum erreichbar sind.
    • Lots*innen sollten die Ziele mit dem Team per SMART-Regel (https://karrierebibel.de/smart-methode/) formulieren und diese zudem in erneut SMART-formulierte Teilziele für jede Arbeitsphase zerlegen.
  • Hindernis 3: Motivationsverlust im Prozess
    • Es ist vollkommen normal, dass zu Beginn neuer Prozesse die Motivation hoch ist. Die Teammitglieder sind gespannt, freuen sich auf Veränderung. Danach nimmt die Motivation aber oft auch erst einmal wieder ab.
    • In den Phasen niedriger Motivation sollten die Lots*innen insbesondere mit dem Team Hindernisse in der Zusammenarbeit ermitteln, besprechen was verbessert werden kann und auch möglicherweise die Teilziele überarbeiten.
  • Hindernis 4: Konflikte im Team
    • Konflikte sind normal und können den Entwicklungsprozess bestärken – sofern sie konstruktiv ausgetragen werden.
    • Lots*innen sollten bei Konflikten moderativ zur Seite stehen, beide Parteien anhören und vermitteln.
    • Ggf. bietet sich die Verwendung der SAG-ES-Formel an:
      • Sichtweise schildern anhand von Beobachtungen
      • Auswirkungen auf die eigene Person
      • Gefühle benennen (wenn man möchte)
      • Erfragen, wie es der*die andere sieht
      • Schlussfolgerungen ziehen, eine gemeinsame Lösung finden
  • Hindernis 5: Abschmettern der Ideen aus Angst vor Veränderung (durch die Führungsebene oder andere Mitarbeiter*innen)
    • Veränderungen können befremdlich wirken und Angst machen. Menschen wissen nicht, was sie von einer neuen Situation erwarten können und lehnen sie daher manchmal schnell ab.
    • Das Team und die Lots*innen sollten gemeinsam mit der Führungsebene für größtmögliche Transparenz zur Ideenentwicklung bei den anderen Mitarbeiter*innen sorgen.
    • Die anderen Mitarbeiter*innen sollen regelmäßig zum Prozess informiert werden. Ihre Anmerkungen können ebenfalls in die Ideenentwicklung eingebunden werden.

 

6. Tipps und Hinweise der teilnehmenden Unternehmen

Hier haben wir Ihnen die Erkenntnisse der teilnehmenden Unternehmen zusammengefasst:

Das ist förderlich im Lern- und Experimentierraum:

  • Positive Grundstimmung im Team des Lern- und Experimentierraums
  • Freier Wille, etwas zu verändern
  • Wille zur Transparenz
  • Ergebnisoffene Herangehensweise
  • Gute Kommunikation: einander zuhören und aufeinander eingehen
  • Freie Zeit für die Treffen
  • Eine Vermittlerperson zwischen Lern- und Experimentierraum und z.B. die Brücke zu anderen Unternehmensbereichen oder Führungskräften schlagen kann und Einblick in viele Unternehmensprozesse hat
  • Ein ruhiger, geschlossener Raum für störungsfreie Treffen des Teams.
  • Einen guten Informationsaustausch zwischen Geschäftsführung und dem Team
  • Fixe Termine, die auch im Dienstplan berücksichtigt werden
  • Vertrauen der Führungskraft in die Mitarbeitenden

Das ist hinderlich im Lern- und Experimentierraum:

  • Von außen auftretende Hindernisse, wie die pandemische Lage oder  unvorhersehbar hohes Arbeitsaufkommen
  • Zu große Erwartungen hinsichtlich weitreichender Ziele und ihrer schnellen Umsetzung. Veränderungen brauchen Zeit
  • unterschiedliche Erwartungshaltung im Team, die nicht kommuniziert wird
  • Zwang zur Mitwirkung (direkte Aufforderung oder indirekter Druck durch Kolleg*innen oder Führungsebene) statt Freiwilligkeit
  • Passivität der Teammitglieder, Scheu etwas auszuprobieren

Weiterführende Informationen:

Neben den Informationen auf unserer Webseite empfehlen wir Ihnen folgendes Dokument zum Einlesen in die Thematik der Lern- und Experimentierräume: